Wenn Digitalisierung auf Handicap trifft

Mehr als 300.000 Personen in Deutschland arbeiten in Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Ihre Arbeitskraft nutzen Automobilzulieferer, Logistikunternehmer und Handwerksbetriebe. Bedroht die Digitalisierung der Produktion diese Arbeitsplätze?

Ehrliche Antworten auf diese Fragen zu finden,  sei eines der wichtigsten Ziele seines Innovationsforums, das er seit Mai 2018 für die Dortmunder Gesellschaft für Bildung und Beruf e.V. organisiert – so Bo Bäckström. Das schwedische Urgestein aus dem Ruhrpott hatte zur zweitägigen Tagung nicht ohne Grund in Dortmunds Norden eingeladen. Hier weiß man, was Wandel von Technologie und Struktur konkret bedeutet. Hier haben Tausende im persönlichen Alltag erlebt, wie die Fördertürme der Zechen zum Museum werden – im besten Fall. Oder einfach aus dem Bild einer Stadt verschwinden. Und kein Steiger mehr kommt.

Expedition Innovation

Nennen wir sie Beate. Seit Jahren kämpft die junge Frau mit psychischen Problemen, ihre Konzentration bricht immer wieder ab. Den Faden wiederzufinden ist ihre tägliche Herausforderung; für einen Waschmaschinenhersteller montiert sie ein Gehäuse. Ihr neuer Probearbeitsplatz soll ihr das Leben leichter machen. Ein angenehmes grünes Licht projiziert die richtige Reihenfolge der Arbeitsschritte direkt auf Beates Werkfläche. Minikameras begleiten jede Bewegung von ihr. Wenn sie unsicher ist, ruft sie per Fingerklick zusätzliche Informationen zur Reihenfolge und zum aktuellen Montagebauteil ab. Jede technische Veränderung des Herstellers  wird online eingespielt. Geht tatsächlich mal etwas schief, zeigt ein dezent rot leuchtendes Signal dies an und nimmt Beate sozusagen digital an die Hand.

zwei Hände bearbeiten Bauteil, vor Projektion
Keine Zukunftsmusik mehr für Mitarbeiter mit Behinderung: Die richtige Reihenfolge der Teile und ihre Montage projiziert ein digitales Assistenzsystem direkt auf die Arbeitsfläche. © PRpetuum GmbH

Das ist keine Zukunftsmusik, sondern zurzeit geprobter Arbeitsalltag in den Werkstätten des Wertkreis Gütersloh. Zusammen mit dem Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung IOSB in Lemgo wurde dieser Arbeitsplatz so gestaltet, dass die Menschen mit Handicap nicht mehr in seitenlangen Bedienungsanleitungen blättern und suchen müssen. Oder auf den Teamleiter warten. Sondern selbstsicher und selbständig ihrer Tätigkeit ohne Stress und Ausschuss nachgehen können.

Vorbild Holland

„Beperkingen“ ist das holländische Wort für Behinderung. Leendert Bos arbeitet für den landesweiten Verband der Behindertenwerkstätten und der Integration in den Niederlanden – Cedris. Sein Motto: „Stark für Menschen in Arbeit!“. Über 90 Partner haben sich bisher in dieser Organisation zusammengeschlossen, um Menschen mit Handicap optimal zu fördern. Cedris betreibt Trainingszentren zur Vorbereitung auf den Arbeitsplatz und forciert Pilotprojekte im Einsatz digitaler Technik sowie in der künftigen Zusammenarbeit von Mensch und Roboter.

zwei Frauen mit VR-Brillen
Digitale Assistenz auch im Raum: AR-Brillen unterstützen die Mitarbeiter mit wichtigen Infos zu den nächsten Arbeitsschritten, die auf den Brillengläsern erscheinen. © PRpetuum GmbH

Wichtig dabei sei die intensive Kooperation und Kommunikation mit Unternehmen, unterstreicht Bos: „Die Firmen entwickeln oft tolle Ideen für Menschen mit Handicap, die bei uns auch gern Menschen mit besonderem Talent genannt werden.“ Beispielsweise der Hersteller der Autokindersitze von MaxiCosi, der seit einiger Zeit technologisch modernste Arbeitsplätze für beeinträchtigte Mitarbeiter eingerichtet hat: Visuelle und Audio-Anleitungen, ergänzt mit spielerischen Funktionen aus der Game-Branche, ersetzen die früher üblichen schriftlichen Arbeitsanleitungen, die immer seltener aktuell waren. Und fast nebenbei entstehen so auch Einsatzmöglichkeiten für ausländische Mitarbeiter, die noch nicht perfekt mit der Sprache klarkommen.

Vorteil digital

Gerade in den Workshops am Vormittag diskutierten die Mitarbeiter der Behindertenwerkstätten mit Wissenschaftlern, Unternehmern und den Anbietern neuer digitaler Assistenzsysteme über Sinn und Unsinn dieser technologischen Möglichkeiten. Klarer Sieger im Meer der Meinungen war die Botschaft: Wir brauchen eine Lernallianz, mit der die Menschen mit Behinderung für die Nutzung digitaler Technik befähigt werden. Dann kann diese zu einer echten Hilfe werden.

Dass dies nicht nur Behauptung mit Blick in Richtung Zukunft, sondern tägliche Realität sein kann, beweist der Leuchtenhersteller TRILUX aus dem Sauerland. Seit mehr als zehn Jahren montieren rund 20 Mitarbeiter der CARITAS ausgesuchte Komponenten. 2017 wollte TRILUX Vorreiter sein und installierte erste digitale Hilfen in der Montage. Der Erfolg bei Qualität und Quantität gibt dem Unternehmen recht. Einziger Wermutstropfen: Im direkten Produktionsprozess kommt die Inklusion an ihre Grenzen. Die Teams der Mitarbeiter ohne und mit Behinderung arbeiten in getrennten Räumen, was sich bestens bewährt.

Vorteil Mensch

Besser hätte man es nicht zusammenfassen können: „Immer und zuerst geht es um den Mitarbeiter Mensch. Und nicht um eine Technologie!“ Bart Decloedt von der größten belgischen Behindertenwerkstatt MARIASTEEN brachte die Diskussion auf diesen guten Punkt. Wenn die Menschen mit all ihren vielfältigen körperlichen und geistigen Einschränkungen durch projizierte Arbeitsanleitungen am Arbeitsplatz oder durch den Einsatz digitaler Brillen, die Reales mit Virtuellem verbinden, ihre Arbeits- und Lebensqualität verbessern können, dann werde man das aktiv unterstützen.

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