Arbeiten in der erweiterten Realität
Mixed Reality, die Vermischung von realer und virtueller Realität, soll das manuelle Arbeiten in der Gefahrenumgebung von Industrieanlagen leichter und sicherer machen. Das Berliner Forschungsprojekt „Mixed Reality for Safe Operations“ entwickelt ein Assistenzsystem, das in viele Datenbrillen integrierbar ist.
Sebastian Binder deutet auf sein Klemmbrett mit technischen Zeichnungen vom Aufbau der Destillationsanlage. Sie zeigen an, wohin die Flüssigkeiten fließen, an welchen Stellen sie welche Temperaturen erreichen und wo die Ventile zur Probenentnahme sind. Dort muss Sebastian Binder mit Schutzausrüstung bekleidet die Probe in ein Labor-Röhrchen fließen lassen und handschriftliche Notizen machen, die er später in den Computer überträgt. Jetzt klemmt er sich ein Walkie-Talkie zwischen helmbedeckten Kopf und hochgezogene Schulter, denn er muss bei dieser Arbeit mit der Leitstelle in Verbindung stehen, um zu kommentieren, was er gerade tut. „Es kann zu gefährlichen Situationen kommen“, sagt er.
In der Leitstelle sitzt Hernàn Munoz vor den Computerbildschirmen – ebenfalls mit einem Walkie-Talkie in der Hand, um die Meldungen von Sebastian Binder entgegen zu nehmen, gegebenenfalls Anleitungen zu geben. Er kennt sich aus mit den Prozessen, die in der Anlage ablaufen. Ein Eingreifen bedeute immer potenzielle Gefahr, sagt auch er.
Sebastian Binder und Hernàn Munoz Gil sind Wissenschaftliche Mitarbeiter an der Technischen Universität Berlin. Im Technikum dort steht diese Vakuumdestillations-Anlage, an der die TU gemeinsam mit Industriepartnern forscht und Zukunftstechnologien entwickelt – zum Beispiel mit der „Rösberg Engineering Ingenieurgesellschaft für Automation“ in dem Projekt „Mixed Reality 4SafeOperations“. Im Namen steckt die Vermischung von realer und virtueller Welt für den sicheren Betrieb von gefährlichen Industrieanlagen.
„MR4 SafeOperations entwickelt ein Assistenzsystem, mit dem manuelle Probenentnahmen wie auch die Wartung gefährlicher Anlagen leichter, schneller und risikoärmer durchgeführt werden“, sagt Steffi Knorn. Die Professorin für Regelungstechnik an der TU Berlin leitet das Projekt. Es gehört zum Netzwerk „Mixed Reality for Business – Mixed-Reality-Anwendungen und Künstliche Intelligenz für den Mittelstand in der Region Berlin und Umland“. MR4B wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen des WIR!-Programms „Wandel durch Innovation in der Region“ gefördert.
Assistenzsystem erzeugt erweiterte Realität
Seit gut einem Jahr läuft das Projekt MR4 SafeOperations – das Wort „sicher“ bezieht sich auf die Gefahren etwa bei der Probenentnahme, um die Konzentration von Stoffen und deren Qualität zu bestimmen oder um den Prozess zu kontrollieren. Bei der Destillation werden die gewünschten Stoffe in einem thermischen Trennverfahren aus einer erhitzten Flüssigkeitsmischung unter bestimmten Druck- und Temperaturverhältnissen herausgelöst. Diese Bedingungen stellen immer eine Gefahr bei der Probenentnahme dar. Jan Selchow, Software-Entwickler beim Projektpartner X-Visual Technologies, demonstriert die Lösung des Problems: eine Probenentnahme der mit Mixed Reality-, kurz MR-Brille. Jan Selchow sieht durch diese Brille seine reale Umgebung, die Anlage. Die erweiterte Realität wird vom MR4SO-Assistenzsystem erzeugt, das sich über das Internet mit anderen Geräten vernetzen kann. Vor seinen Augen erscheinen 3D-Modelle von Anlagenmodulen, Arbeitsanweisungen und Checklisten, die ihn durch die Schritte der Probenentnahme navigieren. Dafür braucht er keine technische Zeichnung auf Papier mehr. Er hat seine Hände frei. In die Brille sind Mikro und Kamera integriert, die nehmen alles auf, was Jan Selchow gerade an der Anlage tut. Das Assistenzsystem verarbeitet die Daten und speichert sie ab. Im Ergebnis der weiteren Projektarbeit soll es die Daten in Echtzeit an die Leitstelle liefern. Ist Kommunikation nötig, findet sie über das Mikro in der Brille statt. Walkie-Talkies braucht man dann nicht mehr.
Vorteile der MR4SO-Lösung
Die Projektpartner betonen, dass sie den Fokus jetzt auch auf IT-Sicherheit legen. Denn ein industrielles Assistenzsystem, das sich mit dem Internet verbindet, müsse unbedingt sicher sein vor Cyberkriminalität.
Das MR4SO-Assistenssystem werde sich in alle marktüblichen Mixed-Reality-Brillen installieren und bei jeder Anlagentechnik anwenden lassen, betont Projektleiterin Knorn und denkt dabei vornehmlich an kleine und mittelständische Unternehmen – allen voran in der Pharmazie und Chemie, wo solche Destillationsanlagen stehen. Deren Betreiber könnten mit Datenbrillen eigener Wahl arbeiten und sich zudem für einzelne Module des Assistenzsystems entscheiden – je nach ihren Bedürfnissen und finanziellen Möglichkeiten. „Schnell und unkompliziert kann unser Assistenzsystem auf Mixed Reality Basis manuelle Arbeiten, die sich nicht automatisieren lassen, erleichtern. Zudem könnten sich damit neue Mitarbeiter an der Anlage schneller einarbeiten“, sagt Steffi Knorn.
Apropos Finanzen: Auch mögliche Geschäftsmodelle, um das Assistenzsystem zu vermarkten, werden innerhalb des MR4SO-Projektes entwickelt.