Freiheit statt Bausparvertrag : Datum:
Die Babyboomer gehen in Rente und qualifizierter Nachwuchs fehlt. Besonders der Mittelstand bekommen das zu spüren. In Thüringen entwickeln Forschende und Unternehmer jetzt völlig neue Arbeitsmodelle, die diesem Trend entgegenwirken und mittelständischen Unternehmen in der gesamten Region zugute kommen sollen.
„Für die jungen Menschen zählt heute nicht mehr, 30 Jahre in einer Firma in starren Schichten zu arbeiten und dadurch einen Bausparvertrag und ein Häuschen zu haben“, sagt Matthias Orth, einer der beiden Inhaber der Thüringer Firma Sealable Solutions GmbH. „Die Frage nach dem Warum ist stärker.“ Deshalb beschäftigt sich Orth schon seit Jahren damit, wie Arbeit mehr Sinn bekommen und Mitarbeitende stärker motiviert werden können. Die Kooperation in dem Bündnis „InnoFARM“, wird vom Bundesforschungsministerium im Rahmen von REGION.innovativ gefördert wird.
Selbstorganisation in der Fertigung
InnoFARM steht für „Innovative Formen von Arbeit im Mittelstand“. Initiator des Bündnisses ist der Wirtschaftswissenschaftler Norbert Bach, Inhaber des Lehrstuhls Unternehmensführung und Organisation an der Technischen Universität Ilmenau. Gemeinsam mit seinen Mitarbeiterinnen hat er zunächst untersucht, mit welchen Problemen Thüringer Unternehmen konfrontiert sind. Dazu hat er Geschäftsführende und Angestellte der drei Bündnis-Unternehmen Sealable Solutions GmbH, DEGUMA Schütz GmbH und LINDIG Fördertechnik GmbH interviewt. „Auf der Basis der Analyse-Ergebnisse haben wir sogenannte Labore definiert, in denen die Unternehmen nun einzelne Maßnahmen der Arbeitsgestaltung ausprobieren können.“
Genau das hat Unternehmer Matthias Orth getan. Er möchte, dass seine Angestellten Arbeit und Privatleben in Einklang bringen können, dass sie motivierter und zufriedener sind. Deshalb testet er Selbstorganisation in der Fertigung. Die Sealable Solutions GmbH stellt Dichtungen auf Kautschukbasis her – für den Hoch- und Tiefbau, aber auch für Tunnel sowie für Gleise. Schichtarbeit ist in der Produktion notwendig, kann jedoch auch flexibel und ohne Kontrollen funktionieren, wie Matthias Orth feststellt. Voraussetzung ist, dass seine Mitarbeitenden den Sinn ihrer Arbeit erkennen. „Sie erfahren, wer der Kunde ist und bekommen einen Termin für die Fertigstellung vorgegeben“, sagt der Unternehmer. „Wie sie das schaffen, ist mehr oder weniger ihnen überlassen. Sie können ihre Arbeitszeit innerhalb des Schichtsystems relativ frei einteilen.“
Zehn Prozent mehr Produktivität
Das Ergebnis dieses neuen Arbeitsmodells ist erstaunlich. „Nach einer ersten Testphase sehen wir Produktivitätssteigerungen von zehn Prozent“, fasst Orth zusammen. „Die Mitarbeiter machen keine Überstunden, lösen sich aber in Pausen ab.“ Dadurch gibt es keinen Leerlauf und keinen Maschinenstillstand – ein weiterer positiver Effekt: Durch die Rotation in den Pausen lernen die Angestellten verschiedene Prozesse kennen. „Auf diese Weise haben wir es geschafft, dass unsere Mitarbeiter mehr Arbeitsprozesse beherrschen – alles selbst motiviert“, freut sich Matthias Orth. Und auch die Kreativität hat einen Schub bekommen. Die Mitarbeitenden haben in kurzer Zeit eine Idee für eine Maschine zur Arbeitserleichterung entwickelt, die dann von der technischen Abteilung umgesetzt wurde.
Lust auf Thüringer Unternehmen
Wirtschaftswissenschaftler Norbert Bach will nun wissen, ob die neuen Methoden wirklich funktionieren, ob auf diese Weise Fachkräfte gewonnen und auch gehalten werden können. „Wir haben im Pausenraum mit den Mitarbeitenden Interviews geführt, um zu erfahren, ob sie nur dem Chef erzählen, dass es eine gute Idee war, oder ob sie tatsächlich von mehr Eigenbeteiligung und Veränderung begeistert sind“, erläutert Bach. Die Ergebnisse werten sie nun aus. Neben Sealable laufen auch in zwei anderen Thüringer Unternehmen Tests mit neuen Arbeitsmodellen. Und dabei soll es nicht bleiben. Die Forschenden wollen in weiteren Befragungen wissen, ob das, was die Firmen gerade ausprobieren, auch in anderen Thüringer Betrieben Anklang finden würde.
„Wir erarbeiten dann einen Methoden-Baukasten, den wir über eine Internetplattform zur Verfügung stellen wollen, damit alle Unternehmen in der Region davon profitieren können“, sagt Bach. Wie wichtig das ist, sieht auch der Sealable-Chef Matthias Orth: „Wir müssen dafür sorgen, dass in Zukunft junge Leute Lust haben, in Thüringer Unternehmen mit wertschöpfenden Prozessen zu arbeiten. Das ist nicht nur für die Unternehmen, sondern für die gesamte Region von Bedeutung.“ Seine Firma hat dank der neuen Arbeitsmodelle schon einen ersten kleinen Erfolg zu verbuchen. Ein junger Mann, der einen hoch dotierten Job in Westdeutschland hatte, heuert jetzt bei Orth an. Er verzichtet sogar auf Gehalt, weil er mehr Gestaltungsfreiheit und Flexibilität bekommt undmehr mitbestimmen kann.