Gaming-Technologien für die Arbeitswelt
Ausgehend von Computerspielen halten Technologien zur Vermischung von natürlicher und künstlicher Realität in immer mehr Lebensbereichen Einzug. Auch traditionelle Handwerksbetriebe wie der Elektrobetrieb se.services öffnen sich der Mixed Reality.
Es braucht mehrere Hände, um den Plan auseinanderzufalten, auf dem das Stromverteilungsnetz eines Einkaufscenters eingezeichnet ist. Felix Gerke zeigt auf die vielen Shops, von denen jeder ein eigenes Beleuchtungskonzept hat. Gerke ist Techniker und steuert Projekte bei der se.services GmbH. Der Spezialbetrieb für Elektroinstallationen aus dem brandenburgischen Schulzendorf plant, installiert und wartet entsprechende Anlagen für Industrie- und Bürogebäude. Bei den Bauberatungen des Einkaufstempels muss die erstellte Zeichnung vom geplanten Stromverteilungsnetz immer mit dabei sein. Was sich wohl oft schwierig gestaltet angesichts der Größe solcher Pläne? Gerke nickt. Eine Alternative zum Papierplan, sagt er, sei die elektronische Variante auf dem Tablet, da könne man sich in einzelne Ausschnitte hineinzoomen. „Allerdings“, argumentiert seine Chefin Marina Schöning, „sind es die Montageleiter gewöhnt, die Ergebnisse ihrer Bauberatung handschriftlich in den Plänen zu vermerken. Im Planungsbüro werden dann all die Anmerkungen, Ergänzungen, Streichungen fehlerfrei in eine neue Zeichnung eingearbeitet.“ Schöning ist eine der zwei Geschäftsführenden der se.services. Deren Team von 130 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern setzt sich aus erfahrenen wie auch jungen, zum großen Teil im Unternehmen ausgebildeten, Fachkräften zusammen.
Baubesprechung im virtuellen Raum
„Längst nicht jeder Wunsch eines Auftraggebers lässt sich realisieren. Oft müssen wir erklären, dass die ausgeschriebene Leistungsbeschreibung in dem betreffenden Gebäude nicht umzusetzen ist. Dann beginnt die Planung von vorn, Fristen verschieben und Bauzeiten verlängern sich, Kosten schießen in die Höhe“, beschreibt Marina Schöning die Praxis. Seit sie an einem Workshop zu „Gaming-Technologien für neue Anwendungen“ teilgenommen hat, ist sie von der Idee fasziniert, interaktive Entwicklungen aus der Spieleindustrie in die Arbeitswelt zu übertragen. Sie spricht von VR-Brillen, deren Träger sich in einer virtuellen Realität treffen. „Man kann gemeinsam die Baustelle in einem virtuellen Raum begehen, schon frühzeitig so einige Probleme erkennen und mit den Planern Lösungen finden“, sagt sie. Sie ist von der AR-Technologie, abgeleitet vom englischen „augmented reality“, also von der „erweiterten Realität“, überzeugt ist. Sie könne sich vorstellen, dass zukünftig alle Personen, an Bauberatungen teilnehmen, eine AR-Brille tragen. Durch diese Brille sehen sie z.B. eine Projektion der technischen Zeichnung für die Elektroinstallation an der Wand, die für die Installation vorgesehen ist. In Kombination mit Künstlicher Intelligenz könnte diese Zeichnung durch Gesten der beteiligten Personen verändert werden.
Unter dem Begriff Mixed Reality sollen diese digitalen Technologien nach den Plänen der Unternehmenschefin in die Arbeitswelt ihrer Firma einziehen. So sollen Planungszeit und Kosten gespart, Fahrten zu den Baustellen reduziert und zudem junge Fachkräfte angelockt werden.
Mixed Reality für duale Studiengänge
„Wir wollen vor allem kleine und mittlere Unternehmen ermutigen, Mixed Reality-Anwendungen einzusetzen, um sich damit Wettbewerbsvorteile zu verschaffen“, sagt Jenny Orantek von der X-Visual Technologies GmbH in Berlin. Sie koordiniert das Bündnis „Mixed Reality for Business“. MR4B wird vom Bundesforschungsministerium im Rahmen des Programms „WIR! – Wandel durch Innovation in der Region“ gefördert und ist im Land Brandenburg angesiedelt. Schon über 60 Visionärinnen und Visionäre aus Wirtschaft und Wissenschaft vernetzen sich im MR4B-Bündnis. Gemeinsam entwickeln sie Anwendungen, die in der industriellen Praxis und auf dem Gebiet der Wissensvermittlung nutzbar sind. „Wir wollen MR-Technologien mit Künstlicher Intelligenz kombinieren und ganz viele Szenarien ausprobieren“, so die Bündniskoordinatorin. Bei se.services stehen dafür die Türen weit geöffnet – sinnbildlich auch die zum Ausbildungsgebäude. Gerade bauen hier die Azubis Oskar Schimanski und Enzo Arndt eine Elektroinstallation nach der Vorgabe eines Schaltplans. Sie wollen Elektroniker für Energie- und Gebäudetechnik werden. Beide sind von MR-Technologien hellauf begeistert. Von Computerspielen her kennen sie VR- und AR-Brillen. Mit den Brillen könnten sie im virtuellen Raum an visualisierten Anlagen üben, auch Fehlerszenarien durchspielen und sich intensiv auf ihre Prüfungen vorbereiten.
Nicht nur die insgesamt 19 Auszubildenden der se.services GmbH sollen von den Ergebnissen des MR4B-Bündnisses profitieren. „Unsere Firma bietet sich der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg und der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin als Praxispartner für duale Studiengänge auf diesem neuen Themengebiet an“, stellt Marina Schöning in Aussicht.