Schrauben, die sich selbst auflösen
Der menschliche Körper nimmt ein Implantat auf und verstoffwechselt es. Schrauben aus Magnesium lösen sich einfach auf. Das klingt nach Science-Fiction, ist aber bereits Realität – in Deutschland, genauer gesagt in Aachen.
Seit elf Jahren arbeiten in der Kaiserstadt circa 70 Mitarbeitende von drei Start-Ups an sogenannten resorbierbaren Implantaten. Das sind Implantate, die der Körper selbst abbauen und in eigenes Gewebe umwandeln kann. Die Operation zur Entfernung der Implantate soll damit überflüssig werden. Dies ist ein erstrebenswertes Ziel, denn jede weitere OP birgt für Patientinnen und Patienten ein Risiko und ist teuer für das Gesundheitssystem.
Dieses Ziel verfolgt auch das von den Start-Ups mitgegründete RUBIN-Bündnis „reACT“ (Resorbierbare Lösungen aus der Aachener Technologieregion), in dem sich insgesamt 20 Partner aus Wirtschaft und Forschung zusammengeschlossen haben. Das Bündnis wird im Rahmen des Programms „RUBIN – Regionale unternehmerische Bündnisse für Innovation“ des Bundesforschungsministeriums gefördert. Im Interview erklärt Bündniskoordinator und Gründer Dr.-Ing. Alexander Kopp, wie er auf die Idee kam, und was er sich von der Zusammenarbeit im Bündnis erhofft.
Herr Kopp, wie ist Ihre Idee zur Entwicklung von abbaubaren Magnesium-Implantaten entstanden?
Als ich meine Diplomarbeit zum Thema Oberflächenbeschichtung von Kraftstoffförderpumpen im Fach Maschinenbau geschrieben habe, ist mir aufgefallen, dass das, woran ich gerade forsche, für die Medizintechnik enorm relevant sein könnte. Denn: Wenn es gelingen würde, den Zerfallsprozess des Werkstoffs Magnesium zeitlich besser zu steuern, könnte man zuverlässig resorbierbare Implantate aus Magnesium herstellen, die dem Körper genug Zeit geben würden, sich in Knochen umzuwandeln. Den Patientinnen und Patienten würde eine zweite OP erspart, da der Körper die verwendete Magnesiumlegierung aufnimmt und umwandelt.
Wie ist der aktuelle Stand der Entwicklung?
Als wir angefangen haben standen wir vor dem Problem, dass Magnesium vom Körper zu schnell verstoffwechselt wird. Durch eine spezielle Oberflächenbehandlung ist es uns nun möglich, diesen Prozess zu verlangsamen: Durch die Weiterentwicklung unserer Oberflächenbehandlung ist es uns gelungen, über die Schichtdicke und die Porosität den Zeitpunkt zu steuern, an dem das Implantat beginnt, sich aufzulösen. Die Implantate lösen sich also gezielt nach und nach auf. So hat der nachwachsende Knochen aufgrund des genauen Timings immer den Platz, den er benötigt. Je nach Umfeld sind die Implantate ungefähr zwölf bis 24 Monate im Körper, ehe sie verstoffwechselt werden.
Was funktioniert in der Praxis schon gut, wo stehen Sie vor Herausforderungen?
Unsere resorbierbaren Schrauben aus Magnesium werden in der Orthopädie bereits erfolgreich in klinischen Studien getestet. Aktuell arbeiten wir vor allem an der Skalierung: Wir haben kleine Schrauben entwickelt und arbeiten nun an der Herstellung größerer Implantate, wie etwa Platten. Eine zentrale Herausforderung für uns ist der Umgang mit dem Gas, das sich beim Abbau von Magnesium bildet. Hier neue und noch bessere Wege zu finden, damit das Gas ganz langsam entweichen kann, das ist unser Ziel.
Was zeichnet Ihr Unternehmen aus?
Wir sind alles Autodidakten, haben aber einen akademischen Hintergrund. Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kommen direkt von der RWTH Aachen oder der Fachhochschule, außerdem bilden wir selbst aus. Wir haben uns viel Wissen angeeignet, gerade im Bereich Zulassung von Medizinprodukten war das enorm zeitaufwändig. Deshalb war es uns auch so wichtig, mit dem Bündnis einen Fokus auf die Ausbildung zu setzen und einen berufsbegleitenden Masterstudiengang aufzubauen, der sich genau dieser Thematik widmet.
Was erhoffen Sie sich von der Zusammenarbeit im Bündnis?
Wir haben große Ziele: Wir wollen mit dem Bündnis die Aachener Technologieregion bis 2030 zum Herzen der Medizintechnik für resorbierbare Implantate in Europa ausbauen. Besonders wichtig ist es uns, den Mittelstand in der Region zu stärken und Arbeitsplätze zu schaffen. Und ganz konkret: Alle beteiligten Partner sind in einem Radius von circa zehn Kilometern angesiedelt. Wir freuen uns auf den Erfahrungsaustausch, den es vorher trotz kurzer Distanzen nicht mit allen Beteiligten gegeben hat.
Hat der direkte Austausch zwischen Ärzt*innen und Ingenieur*innen in der Praxis bisher gefehlt?
Der Austausch fand statt, aber gerade in Zeiten von Corona ist er deutlich schwieriger geworden. Deshalb haben wir hier auch einen Schwerpunkt im Verbundprojekt gesetzt: Wir möchten den Dialog mit Ärzten gezielt digitalisieren.
Können durch das Bündnis neue Wege mit Blick auf die Produktentwicklung eingeschlagen werden?
Durch das Bündnis haben wir neue Expertise an Bord: Wir haben hier zum Beispiel Experten für neue Fertigungsverfahren wie den 3D-Druck oder Spezialisten für Textilverarbeitungsverfahren als Partner. Mit Textil hat man in der Medizintechnik bereits viel Erfahrung, wie zum Beispiel mit implantierbaren Netzen bei Leistenbrüchen, sogenannten Herniennetzen. Genauso arbeiten wir im Bündnis reACT aber auch an weiteren resorbierbaren Materialien wie Zink oder Eisen, die sich unter Umständen für gewisse Anwendungen noch besser zur Herstellung resorbierbarer Lösungen eignen. Wir sind nicht festgelegt, denn genau an solchen Fragen wollen wir gemeinsam forschen und so die besten Lösungen für die Patientinnen und Patienten finden.