Die Lehm-Botschafterin
Fasziniert vom Lehmbau verlegte die Archäologin Franziska Knoll ihren Lebensmittelpunkt von Bayern nach Mitteldeutschland. Denn die einzigartige historische Bauweise mit diesem Naturstoff prägt die Region bis heute. Ihre Vision: Das einstige Baumaterial der armen Leute bekommt ein modernes Image als Energiesparer und Klimaretter.
„Oha, hier spitzt was durch – bei uns in Bayern heißt das so viel wie: Hier kommt etwas zum Vorschein“, erklärt Franziska Knoll. Die Archäologin zeigt auf ein Drahtgitter, das vor Jahrzehnten auf die Hauswand genagelt wurde, um den Zementputz festzuhalten. Dahinter ist eine Wand aus Lehm zu sehen. Die Wissenschaftlerin, geboren und aufgewachsen im bayerischen Freising, ist so sehr von diesem Naturstoff fasziniert, dass sie jetzt in Mitteldeutschland lebt und arbeitet. Hier liegt der Lehm geradewegs vor ihrer Haustür: „Bis an den Rand des Harzgebirges wehte in der Eiszeit der Löss – eine Mischung aus Sand, verwittertem Gestein und Ton. Löss ist ein perfekter Rohstoff für massive Lehmwände“, erklärt die Expertin.
Quasi auf Löss-Lehm gebaut ist Pouch, eine Halbinsel am Muldestausee im Landkreis Anhalt-Bitterfeld. Franziska Knoll ist hier zum wiederholten Male auf „Lehmspaziergang“. So nennt sie ihre wissenschaftlichen Erkundungen des Lehmbau-Bestandes in Mitteldeutschland. Seit zwei Jahren arbeitet sie in Halle (Saale) beim Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt. Dort ist das „GOLEHM“-Forschungsbündnis angesiedelt. GOLEHM steht für „Ganzheitlicher, Oekologischer Lehmbau“. „Unter den heutigen Maßgaben von Ökobilanz und Klimaneutralität ist dieser regional verfügbare Naturbaustoff ideal. Doch leider ist mit der Entwicklung moderner Baustoffe der Lehm in Vergessenheit geraten. Wir wollen ihn in die Bauwirtschaft zurückholen“, sagt Bündnis-Koordinatorin Knoll. Mit „wir“ meint sie allen voran ihre enthusiastischen Mitstreiter der ersten Stunde. Neben dem Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt sind das auch der Dachverband Lehm in Weimar und das Berliner Architekten- und Ingenieurbüro ZRS. Gemeinsam reichten sie ihr GOLEHM-Konzept als Beitrag zum ressourcenschonenden klimafreundlichen Bauen beim Bundesforschungsministerium ein und werden nun im Rahmen der Programmlinie „WIR! – Wandel durch Innovation in der Region“ unterstützt.
Mit eigenen Händen ein Lehmhaus bauen
Zum ersten Mal kam Franziska Knoll mit Lehm in Berührung, als sie nach ihrem Abitur im Jahr 2000 für ein Sozialprojekt in Brasilien Wasserbrunnen bohrte. „Wir wohnten in Lehmhäusern. Als Großstadtkind war ich fasziniert von diesem Material, aus dem man mit den eigenen Händen ein Haus bauen kann.“ In Regensburg studierte sie dann klassische Archäologie und promovierte in Jena zur prähistorischen Wandmalerei auf Lehm. Dafür war sie in Spanien, Dänemark, Tschechien und Frankreich unterwegs – und eben auch in Mitteldeutschland. „Schon vom Auto aus fiel mir auf, wie viele Lehmhäuser es hier gibt“, erzählt sie beeindruckt.
Mit sicherem Blick erkennt Franziska Knoll auf ihren Erkundungsgängen die aus Lehm gebauten Häuser: „Zum Beispiel dieses ...“, zeigt sie und bleibt stehen. Das Haus hat auffällig dicke Wände, die von Brettern unter dem Dach vor Nässe von oben geschützt werden. Unten sorgt ein Steinsockel für trockene Füße. „Der Schutz vor Feuchtigkeit ist wichtig. Die Lehmwände würden bei permanenter Durchnässung einfach zu Boden fließen“, meint die Fachfrau und macht ein Handy-Foto von einer Hauswand, an der mal wieder bröckelnder Lehm „durchspitzt“. Der Lehm kann hinter dem Putz nicht atmen; er schwitzt und wird instabil. Sie schreibt sich Straße und Hausnummer auf und wird später in topografischen Karten nachschauen, ab wann dieses Haus dort eingetragen ist. „Solche Karten“, erklärt sie, „gehen bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts zurück. Seitdem werden sie alle zehn bis 30 Jahre aktualisiert. So kann ich ihnen entnehmen, wie alt dieses Haus ist.“
Hilfe zur Selbsthilfe geben
Von der Halbinsel Pouch wissen die GOLEHM-Akteure inzwischen, dass es hier von 1911 bis zum Ersten Weltkrieg einen regelrechten Bauboom von Lehmhäusern gab. „Mit der Industrialisierung kamen die chemische Industrie und die Eisenbahn in die Region; die Energie kam von der Kohle aus den Bitterfelder Revier“, sagt Franziska Knoll. Nach dem Zweiten Weltkrieg bauten dann sesshaft werdende Flüchtlinge ihre Häuser aus Lehm. Der Kelleraushub wurde gleich für die Wände verwendet. Oder man holte sich das Material aus dem Feuerlöschteich.
„In den 1950er-Jahren gab es sogar Beratungsstellen, die Hilfe zur Selbsthilfe anboten“, weiß Franziska Knoll. Sie will zu diesem Thema weiter recherchieren: „Meine ,Abends-auf-der-Couch-Arbeit‘ in diesem Winter“, sagt sie. Denn Hilfe zur Selbsthilfe sei ein großes Thema, das in ein GOLEHM-Kompetenzzentrum münden soll. Bis dahin geben die GOLEHM-Akteure in Gesprächen vor Ort und auf ihrer Internetseite Rat; etwa wie man mit Zement-verputzten Wänden umgeht. Viele Lehmbauten, so Franziska Knoll, hätten in den 1970er-Jahren eine nicht fachgerechte Fassade bekommen, weil Lehm mittlerweile als Baumaterial der armen Leute galt. Nachwachsende Handwerkergenerationen erlernten die Lehmbautechniken nicht mehr.
Das soll sich ändern. Angesichts der gegenwärtigen Energiekrise habe Lehm besonders große Chancen, sich wieder als Baustoff zu etablieren, prophezeit Franziska Knoll. „Auch wenn sich unsere Vorfahren keine Gedanken machten über Ökobilanz und Klimaneutralität, wussten sie sehr wohl das angenehme Raumklima in ihren Häusern zu schätzen. Lehmwände halten sowohl Hitze als auch Kälte ab.“
Die kontaktfreudige Archäologin fragt auch gleich mal über den Gartenzaun hinweg eine laubharkende Frau, ob es in ihrem Haus behaglich sei und wie viel Energie sie verbrauche. „Wir haben gerade ein GOLEHM-Teilprojekt zur wissenschaftlichen Daten-Erhebung gestartet, um Temperatur, Luftfeuchte und Kohlendioxidkonzentration in Gebäuden unterschiedlicher Lehmbautechniken zu erfassen. Auch Umfragen zu Behaglichkeit, Wohnzufriedenheit und Wohnverhalten gehören dazu“, erklärt die Bündnis-Koordinatorin.
Menschen für Lehmbaustoff begeistern
Der auf diese Weise gesammelte Wissensfundus soll dann verschieden genutzt werden; unter anderem, um die GOLEHM-Öffentlichkeitsarbeit „pro Lehm“ zu unterstützen. Das Handwerk soll für den Baustoff sowie die traditionellen Techniken interessiert und Privatmenschen für einen Neubau oder eine Sanierung mit Lehm begeistert werden.
Die Eheleute Rückauf aus Pouch sind solche Lehm-Begeisterten. Sie bauen einen alten Stall zum Wohnraum aus und sind froh über die Unterstützung aus dem GOLEHM-Netzwerk. Fachbegriffe wie „Opferputz“ kommen Steffi Rückauf mittlerweile ganz leicht über die Lippen. Sie erklärt, dass sie diesen Lehmputz auf die mit Ausscheidungen getränkten Wände der einstigen Tierbehausung bringen müssten, damit er die das enthaltene Nitrat heraussauge. Dieser Putz müsse dann „geopfert“ und abgeschlagen werden. „Partner aus unserem GOLEHM-Bündnis werden ihn untersuchen“, ergänzt Franziska Knoll. Denn in dem Forschungsvorhaben wolle man auch herausfinden, wie hoch der Lehm mit Schadstoffen etwa aus dem Kohlebergbau und der Chemieindustrie belastet ist und wie diese aus dem Lehm herausgefiltert werden können. Denn sowohl der Lehm aus dem Boden als auch recycelter Lehm müssten – anders als früher – bestimmte Normen für die Zulassung als Baustoff erfüllen.
Steffi Rückauf jedenfalls hat für ihren nitrathaltigen Opferputz dann doch noch eine fruchtbare Verwendung, und zwar als Bodenverbesserer im Garten. „So viel zur Nachhaltigkeit“, mit Daumen-hoch-Geste verabschiedet sich Franziska Knoll. Die zehn Wohnhäuser und sechs Nutzbauten, die sie auf ihrem Erkundungsgang durch Pouch neu registriert hat, wird sie in den „Atlas der Massivlehmbauten in Mitteldeutschland“ auf der GOLEHM-Internetseite eintragen. „Die Seite funktioniert schon ganz gut als digitale Hilfe zur Selbsthilfe“, ruft sie noch und steigt in ihr Auto.