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Erste Adresse für technische Textilien

In Berlin haben drei Frauen Deutschlands erstes „Textile Prototyping Lab“ gegründet. Das Labor für innovative Textilien steht allen offen, die ausprobieren wollen, ob ihre Idee funktioniert. Das kann ein Woll-Cape mit eingebauter Wärmeelektronik sein oder ein stromleitender Stoffgurt, der Designerlampen leuchten lässt.

Essi Glomb, Karina Wirth und Sara Diaz Rodriguez (v.l.n.r.), haben Deutschlands erstes offenes und interdisziplinäres Forschungslabor für die Textilbranche gegründet.
Essi Glomb, Karina Wirth und Sara Diaz Rodriguez (v.l.n.r.), haben Deutschlands erstes offenes und interdisziplinäres Forschungslabor für die Textilbranche gegründet. © BMBF/Innovation & Strukturwandel/Thilo Schoch
In einer Berliner Fabrikhalle, wo in den 1920er-Jahren AEG elektrisch betriebene Motoren baute, werden jetzt Textilien mit eingearbeiteter Elektronik entwickelt.
In einer Berliner Fabrikhalle, wo in den 1920er-Jahren AEG elektrisch betriebene Motoren baute, werden jetzt Textilien mit eingearbeiteter Elektronik entwickelt. Heutiger Mieter der Halle ist das Fraunhofer-Institut für Zuverlässigkeit und Mikrointegration, ein TPL-Gründungspartner. © BMBF/Innovation & Strukturwandel/Thilo Schoch

Essi Glomb ist fasziniert von der 100 Jahre alten Fabrikhalle aus dunkelrotem Backstein, Glas und Stahl. In zwölf Metern Höhe hängen gigantische Haken von Deckenkränen. „Schweres wurde hier bewegt. Das steht im reizvollen Kontrast zu den leichten Materialien, die wir hier entwickeln“, sagt die Textildesignerin. Auch ihre Kolleginnen Karina Wirth und Sara Diaz Rodriguez fühlen sich vom Gegensatz von Historie und Moderne inspiriert. Die Forschungsmitarbeiterinnen der Weißensee Kunsthochschule Berlin (KHB) haben Deutschlands erstes offenes und interdisziplinäres Forschungslabor für die Textilbranche gegründet, das Textile Prototyping Lab – kurz TPL. Neben den Laborräumen in der Kunsthochschule umfasst das TPL auch die Montagehalle auf dem historischen Werksgelände in Berlin-Mitte. Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte hier die Allgemeine Electricitäts-Gesellschaft (AEG) elektrisch betriebene Motoren und trieb Berlins Aufstieg zur Industriemetropole voran. Die TPL-Gründerinnen erleben diesen Ort als impulsgebend und zukunftsweisend. Produzierende und technologieorientierte Unternehmen wie auch Forschungseinrichtungen und Kreative haben sich hier angesiedelt.

Mit technischen Textilien auf neue Märkte

Fasziniert von der Idee einer modernen Textilbranche waren die Materialforscherinnen schon während ihres Studiums. Damals besuchten sie Textillabore in den Niederlanden, in Finnland und Schweden. Designerinnen und Designer experimentierten dort mit innovativen Garnen und Stoffen, arbeiteten kreativ an digital gesteuerten Web-, Strick- und Stick-Maschinen. Die jungen Frauen nahmen diese Aufbruchsstimmung mit nach Hause – und auch eine Überzeugung: In einer Zeit, in der transparente Gardinenstoffe aus der Mode kommen und Bekleidung im Ausland billiger produziert wird, können technische Textilien der deutschen Traditionsindustrie das Überleben sichern.

Was sich hinter dem Sammelbegriff „technische Textilien“ verbirgt, wollten sie anhand konkreter Beispiele zeigen. Mit dieser Motivation starteten die Materialforscherinnen den Aufbau eines Forschungslabors, das öffentlich zugänglich ist. Designerinnen und Designer, Forschende, Ingenieurinnen und Ingenieure, Kreative und Vertreterinnen und Vertreter der Industrie lassen hier ihren Gedanken freien Lauf und entwickeln gemeinsam Textilien mit technischem Mehrwert. Das können etwa schmutzabweisende, lärmschluckende oder stromleitende Eigenschaften sein, die Produkten völlig neue Funktionalitäten verleihen. Inzwischen hat sich dafür der Begriff „TechTex“ etabliert. „Unsere einheimische Branche muss sich mit den TechTex neue Geschäftsfelder eröffnen“, fordert Essi Glomb.

Mützenhelm und Hightech-Cape

Die Funktion eines Textils ist wichtig – aber letztlich nur eines der Verkaufsargumente: „Wir denken das Produkt vom Design her“, betont deshalb Essi Glomb. Eine anschmiegsame Mütze aus technischem Gewebe, die bei einem Sturz stabil wie ein Schutzhelm wird? Hochinnovativ – doch nur wenn sie schick aussieht, wird sie auch viele Käuferinnen und Käufer finden. Als tragfähig und angenehm haben Lufthansa-Gäste bereits eine Passagierdecke für körperlich belastende Langstreckenflüge bewertet. Im TPL wurden das Gewebe aus Merinowolle entwickelt und eine Form, die an die Körperhaltung im Sitzen angepasst ist. Im Fuß- und Nackenbereich sowie in der Körpermitte des Hightech-Capes sind individuell steuerbare Wärmemodule eingearbeitet. Die Form schon zu Beginn einer Entwicklung mitzudenken, sei für die Industrie vielfach neu, aber wichtig, glauben die Textildesignerinnen.

Auf der Suche nach gleichgesinnten Unterstützerinnen und Unterstützern ihres Ansatzes fanden sie zu futureTEX. Das Kompetenznetzwerk aus Forschungs- und Industriepartnern macht die traditionsreiche Textilbranche fit für das digitale Zeitalter. Dabei wird es vom Bundesforschungsministerium im Rahmen des Programms „Zwanzig20 – Partnerschaft für Innovation“ gefördert. Gründungspartner des Textile Prototyping Lab sind die Weißensee Kunsthochschule Berlin, das Sächsische Textilforschungsinstitut Chemnitz, das Textilforschungsinstitut Thüringen-Vogtland und das Fraunhofer-Institut für Zuverlässigkeit und Mikrointegration in Berlin. „Wir sind froh, dass wir das Textile Prototyping Lab als Teilprojekt von futureTEX aufbauen können“, sagt Karina Wirth. „Die staatliche Förderung ermöglicht einen finanziellen Freiraum und das moderne technische Umfeld, in dem Studierende und Start-ups, Forschungseinrichtungen und Industrieunternehmen ihre Prototypen entwickeln und testen können.“

In der Tradition der Bauhaus-Frauen

Sara Diaz Rodriguez arbeitet an ihrer selbst entwickelten Spinnmaschine.
Sara Diaz Rodriguez arbeitet an ihrer selbst entwickelten Spinnmaschine. © BMBF/Innovation & Strukturwandel/Thilo Schoch

Das Herz des TPL schlägt im Hightech-Maschinenpark. Computergesteuerte Maschinen führen ursprünglich handwerkliche Tätigkeiten aus: Sie schneiden, stricken, nähen und sticken. Zeichen der Moderne sind zudem 3D-Drucker und eine Laserschneidmaschine. Im Textile Prototyping Lab ist die Interaktion zwischen Mensch und Maschine eine Selbstverständlichkeit. Außerhalb ihres selbst geschaffenen Arbeitsumfeldes im TPL treffen dessen Gründerinnen allerdings bisweilen auf althergebrachte Voreingenommenheit, was die Affinität von Frauen zu Technik betrifft. Sara Diaz Rodriguez hat derartige Erfahrungen gemacht. Sie kennt sich mit Elektronik aus, kann programmieren und ist eine Expertin für die digitale Fertigung von Textilien. Ihre selbst entwickelte digitale Spinnmaschine fügt elektrisch leitfähige und andere hochspezialisierte Garne präzise in Textilien ein. Doch als sie ihre Eigenentwicklung einschlägigen Firmen vorstellte, traf sie auf Skepsis. Jetzt, ganze fünf Jahre später, habe sie ihren Weg gefunden, die Maschine mit interessierten Anwenderinnen und Anwendern zusammenzubringen, freut sich Sara Diaz Rodriguez.

Überhaupt komme es darauf an, eigene Wege zu gehen, betonen die TPL-Koordinatorinnen. Sie sehen sich in der Tradition der Bauhaus-Frauen. „Flaggschiff der Moderne“ wurde die bedeutende Hochschule für Gestaltung Anfang des 20. Jahrhunderts genannt. Doch die Frauen waren damals nicht gleichberechtigt und wurden in die Weberei abgeschoben. Dann machte die ideenreiche „Frauenklasse“ diese Werkstatt zu einer der produktivsten des Bauhauses. Nicht ernst genommen zu werden, passt auch nicht in das Weltbild der TPL-Gründerinnen. Sie sehen eine Aufgabe ihres Forschungslabors darin, insbesondere Frauen die Türen zu einstigen Männerdomänen zu öffnen.

Schlüssel für die textile Zukunft

Nicht zufällig ist das TPL-Logo einem Schlüssel nachempfunden. Denn das TPL will Türen in die textile Zukunft aufschließen – etwa die zum Markt der E-Textilien. In diese sind elektrisch leitfähige Garne oder elektronische Module eingearbeitet, für die das TPL einen speziellen Baukasten entwickelt hat. Darauf wurden u. a. der spanische Leuchtenhersteller Vibia und der bekannte deutsche Industriedesigner Stefan Diez aufmerksam. Gemeinsam mit dem TPL entwickelte Diez ein innovatives textiles Beleuchtungssystem: Die Leuchten können auf einem Textilgurt, in den ein stromleitendes Material eingearbeitet wurde, hin und her geschoben werden. Auf dem „Salone del Mobile“, der weltweit renommierten Möbelmesse in Mailand, und auf der Techtextil in Frankfurt sorgte das technologische und gestalterische Konzept für großes Aufsehen in Industrie und designaffiner Öffentlichkeit. Essi Glomb, Karina Wirth und Sara Diaz Rodriguez sehen sich darin bestätigt: „Das Textile Prototyping Lab folgt dem Bauhaus-Leitgedanken der industriellen Produzierbarkeit – aber auf anderen Wegen und mit Frauen in der ersten Reihe. Wir setzen Akzente und werden damit öffentlich wahrgenommen.“

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