Pillen-Drohne im Anflug

Eine Apotheken-App und Medikamentendrohnen sollen die medizinische Versorgung in strukturschwachen Regionen verbessern. Dazu haben sich zwischen Merseburg und Berlin vier ungewöhnliche Partner zusammengeschlossen.

Start-up-Gründer Tim Fischer (links) und Apotheker Martin Grünthal präsentieren die Modell-Drohne. Sie hat einen in den Flugkörper integrierten Laderaum, der zum Schutz des sensiblen Transportgutes mit Dämmmaterial ausgekleidet ist
Start-up-Gründer Tim Fischer (links) und Apotheker Martin Grünthal präsentieren die Modell-Drohne. Sie hat einen in den Flugkörper integrierten Laderaum, der zum Schutz des sensiblen Transportgutes mit Dämmmaterial ausgekleidet ist © Thilo Schoch

Der Dessauer Apotheker Martin Grünthal ist technikbegeistert. Seit Jahren reagiert Grünthal flexibel auf den sich stetig ändernden Markt. Dem steht eine weitere größere Neuerung bevor. Wenn das elektronische Rezept für verschreibungspflichtige Medikamente eingeführt wird, wirft das für den Apotheker eine wirtschaftlich wichtige Frage auf: „Lösen meine Kunden auch ihr E-Rezept bei mir ein oder wird ihnen der Weg zur Online-Apotheke noch leichter gemacht?“ In Deutschland schließe derzeit alle zwei Tage eine stationäre Apotheke, sagt Grünthal. Zwei als „Pillen-Taxi“ optisch erkennbare Autos schickt er ins Umland von Dessau-Roßlau zu seinen Kundinnen und Kunden, die unterschiedlich mobil sind – zu alten, kranken oder pflegebedürftigen Menschen, die nicht oder nicht mehr Auto fahren können, und zu jungen Menschen, die nicht Auto fahren wollen.

Gleich zu Beginn der COVID-19-Pandemie habe er überlegt, wie er geschickt auf die neue Lage reagieren könne. „Vom aktuellen Tag her in die Zukunft schauen und schon mal anfangen, sie zu gestalten“, so die Lebensmaxime von Martin Grünthal. – Ist, wer in Dessau aufwächst, beseelt vom Genius Loci, vom Geist des berühmten Bauhauses, dieser avantgardistischen Hochschule für Gestaltung? Grünthal, Jahrgang 1971, zuckt mit den Schultern. Mit der Bedeutung dieser Schule auch für die Gestaltung einer modernen Gesellschaft habe er sich eigentlich erst nach der deutschen Wiedervereinigung intensiver beschäftigt. Mit der Wahl des Namens für seine „Apotheke am Bauhaus“ verkündet er zunächst die räumliche Nähe zum sogenannten Flaggschiff der Moderne. Wenn er auf der Wiese vor dem Bauhaus seine Apothekendrohne für ein Foto-Shooting aufstellt, dann ist auch eine ideelle Nähe auszumachen zu den „Bauhäuslern“, die den Anspruch hatten, den „Alltag radikal neu zu denken“.

Innovation für den ländlichen Raum

Den Alltag neu denken – das ist für Tim Fischer sowieso Programm. Der Anspruch unserer heutigen Zeit sei es, einen möglichst kleinen ökologischen Fußabdruck zu hinterlassen, darum baue er Drohnen, sagt der 32-jährige Berliner. Beim Segelfliegen, in der gedanklich grenzenlosen Freiheit über den Wolken, kam ihm und zwei Freunden die Idee vom Drohnenbau. 2019 gründeten die drei ihr Start-up DiAvEn – Digital Aviation Engineering ist eine Ausgründung der Technischen Universität Berlin, wo Tim Fischer Luftfahrzeug- und Leichtbau studiert hat. Apotheker Martin Grünthal ist ihm da durchaus ein Gesprächspartner auf gleicher Wellenlänge. Der nämlich hatte den Beruf des Elektrotechnikers gelernt, bevor er sich zum Pharmaziestudium an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg entschloss.

Per Apotheken-App verschicken die Kundinnen und Kunden ihr elektronisches Rezept sowie Angaben über den gewünschten Lieferort und die Lieferzeit
Per Apotheken-App verschicken die Kundinnen und Kunden ihr elektronisches Rezept sowie Angaben über den gewünschten Lieferort und die Lieferzeit © Thilo Schoch

So also erklärt sich Grünthals Affinität zu technischen Lösungen und naheliegenderweise auch zu solchen, die seinen beruflichen Alltag modernisieren. Ein Freund und Unterstützer auf diesem Weg ist Sirko Scheffler, Geschäftsführer des IT- und Mediendienstleisters brain-SCC im sachsen-anhaltischen Merseburg. Gemeinsam hatten Grünthal und Scheffler bereits die App entwickelt, die sie nun für die digitalisierte Gesundheitsversorgung optimieren wollen. Die brain-SCC ist Partner des Innovationsbündnisses „TDG – Translationsregion digitali sierte Gesundheitsversorgung“. Dieses Bündnis bringt Innovationen hauptsächlich für den medizinisch unterversorgten ländlichen Raum auf den Weg. Dabei wird es vom Bundesforschungsministerium im Rahmen des Programms „WIR! – Wandel durch Innovation in der Region“ gefördert. Die Medikamentenversorgung mithilfe von Apotheken-Drohne und Apotheken-App – kurz „ADApp“ – ist solch ein innovativer Ansatz für den ländlichen Raum. Wissenschaftlich begleitet wird das Projekt von der Hochschule Anhalt in Bernburg mit ihrem Studiengang für Logistik und Luftverkehrsmanagement sowie von der Arbeitsgruppe „Versorgungsforschung“ der Universitätsmedizin Halle (Saale).

Mit Fallschirm oder Seilwinde

Martin Grünthal erntet neugierige Blicke von Passantinnen und Passanten, als er vor seiner Apotheke die Pillen-Drohne mit einer Arzneitüte bestückt – bisher nur für das Foto. Denn momentan steht das Projekt noch an seinen Anfängen, auch was die rechtlichen Rahmenbedingungen angeht. Erst seit Beginn 2021, erklärt Tim Fischer, definiere eine europäische Drohnen-Verkehrsordnung, wo und wie die einzelnen Drohnenklassen unterwegs sein dürften – in einem Luftraum zwischen Straße und Verkehrsflughöhe. Später einmal, so der Drohnenbauer, werde es in seinem Unternehmen Fernpiloten geben, die die Drohnen überwachen und koordinieren. Da brauche es für jeden Testflug noch seitenlange Anträge, wochenlange behördliche Bearbeitungszeiten und viele Gespräche. Nervt das? Möchte man da nicht am liebsten aufgeben? Tim Fischer und Martin Grünthal müssen lachen. Die beiden sehen eben auch im Aus- und Durchhalten unerlässliche Tugenden von Visionären. Und: „wenn es um Medikamententransporte auf neuen, bislang unerprobten Wegen geht, spielt Sicherheit natürlich eine besonders große Rolle“, kommentiert der Apotheker die gründlichen Prüfungen.

Die Modell-Drohne hat einen in den Flugkörper integrierten Laderaum. Dieser ist zum Schutz des sensiblen Transportgutes mit Dämmmaterial ausgekleidet. Ortskenntnis erhält die Kamera-bestückte Drohne über die Apotheken-App, in die die Kunden Angaben zu Lieferort und -zeit eingeben. Für einen zielsicheren Anflug bringt das DiAvEn-Team seine besondere Expertise ein. Vom weltgrößten Wettbewerb für autonomes Fliegen, der „RobotChallenge“ in Peking, kam das DiAvEn-Team 2017 als Sieger in der Kategorie Airrace zurück. „Wir können die Apotheken-Drohnen punktgenau dorthin lenken, wo sie erwartet werden“, sagt Tim Fischer. Jetzt gehe es darum, Ideen zu finden, wie die Medikamentenübergabe vor Ort erfolgen könne. Eine Landung der Drohne ist im Gespräch oder der Abwurf der Medikamentenbox mit einem Fallschirm oder das Herablassen an einer Seilwinde. Um eine bestmögliche Lösung für die Medikamentenübergabe zu finden, sollen auch Nutzerinnen und Nutzer zu ihren Präferenzen befragt werden, so der Apotheker.

Solarstrom an Bord

Demnächst sind Testflüge auf dem Flughafen Cochstedt in der Nähe von Magdeburg geplant. Hier baut die Deutsche Gesellschaft für Luft- und Raumfahrt das größte Drohnenversuchszentrum Europas auf. „Derzeit könnte unsere Drohne in einem Umkreis von etwa 13 Kilometern ausliefern und bräuchte dabei etwa zwölf Minuten für eine Strecke. Die Akkus reichen für eine Stunde“, sagt Tim Fischer. Die von Apotheker Grünthal bisher eingesetzten Pillen-Taxis können in puncto Wirtschaftlichkeit, Geräuscharmut und CO2-Ausstoß mit der Drohne nicht mithalten. Schritt für Schritt soll diese in den kommenden Jahren an verschiedenste Anforderungen angepasst werden. „Bis die Apotheken-Drohne Teil der Regelversorgung ist, wird es wohl noch ein Weilchen dauern. Aber wenn alles so einfach wäre, würde es ja jeder tun“, betont Grünthal.

Doch auch in der Zwischenzeit wird in der Apotheke am Bauhaus der Alltag neu gedacht. Martin Grünthal will seinen kleinen Fuhrpark auf E-angetriebene Pillen-Taxis umstellen. Diese werden an der eigenen Tankstelle mit eigenem Solarstrom aufgeladen – so wie es auch für die Pillen-Drohne geplant ist

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